Und dann?

   
   

 

Ihr war kalt. Sie sass am Fluss und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Welke Blätter trieben vorbei. Die junge Frau war arbeitslos und hatte keine Träume mehr. Und keine Tränen.

Den Gärtner bemerkte Linda erst, als das Kratzen seines Rechens plötzlich verstummte. Sie hob den Blick und schaute den Mann an, der unweit von ihr eine Pause eingelegt hatte. Silberfäden durchzogen sein schwarzes Haar.

«Ginkgo», murmelte er und zeigte auf den Blätterhaufen.

«... biloba» ergänzte Linda mechanisch.

Der Gärtner blickte sie erstaunt an. «Sind Sie Botanikerin?»

«Drogistin», presste sie leise hervor.

«Arbeitslos?»

Linda sah ihn argwöhnisch an.

Er räusperte sich. «Verzeihung, aber um diese Zeit halten sich hier meist Rentner auf, Mütter mit Kindern, Drogensüchtige ... und Arbeitslose.»

Sie nickte.

«War auch arbeitslos.» Der Mann liess seinen Blick über den Fluss schweifen. «Ich sass damals viel am Wasser, haderte mit Gott und der Welt. Denn mein Leben hätte ganz anders verlaufen können, wäre ich als Illustrator entdeckt worden; Zeichnen ist nämlich meine Leidenschaft.»

Linda sah ihn an und wartete.

«Eines Tages begann ich meinen Traum weiterzuspinnen, stellte mir dabei immer wieder die Frage: ‹Und dann?› Ich sah mich als Comic-Zeichner, Buch-Illustrator, wurde berühmt, hatte bald eine eigene Agentur, Villa ...» Er hielt inne und schaute auf den Fluss.

«Und dann?», fragte Linda nach einer Weile leise.

«Business; keine Zeit mehr, keine Ideen, Langeweile. Alle meine Träume endeten ähnlich: mit Leere.»

«Wie ...?» Linda deutete auf seinen Rechen.

«Beim Träumespinnen fiel plötzlich ein buntes Blatt auf meine Hand. Welche Farben, welche Fülle ... Freiheit! Noch am gleichen Tag meldete ich mich beim RAV für ein Beschäftigungsprogramm an. Ich hatte Glück: Eine Gärtnerei suchte gerade Hilfskräfte. Ich fand nicht nur Arbeit, sondern auch Sinn ... und gute Freunde.»

Linda brannte eine Frage auf der Zunge. «Zeichnen Sie noch immer?»

Er zog ein kleines Büchlein aus der Tasche und gab es ihr. «Tore zum Glück». Es enthielt Haikus – mit kargen Zeichnungen illustriert; jede entbarg eine schier unendliche Fülle.

Wie konnte ein welkes Blatt so viel bewirken? Linda weinte. Als sie ihren Blick wieder hob, war der Gärtner verschwunden. Sie spürte die Sonne auf ihrer Haut. Linda sprang auf, es gab viel zu tun.

Erst viel später kam ihr das Büchlein wieder in denn Sinn; hatte sie es wirklich liegen lassen?

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Ginkgo biloba = Silberaprikose, Goldfruchtbaum, Tempelbaum

Haiku = japanisches 17-silbiges Gedicht

 

Am 3. Februar 2006 beim Kurzgeschichten-Wettbewerb der SUVA eingereicht. Thema «traum & wirklichkeit. Länge: maximal 2500 Zeichen. Kein Glück.

Später eingereicht beim Zürcher Unterländer. Glück. Und dann?

 

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