Körper und Geist
 
       
 
Das Universum in uns
 
       
    Der Psychologe und Hirnforscher Ian Robertson hilft Leuten, deren Gehirn nicht mehr optimal funktioniert. Ursachen gib es viele: Krankheit (Alzheimer, Parkinson), Verletzungen, Operationen, traumatische Erlebnisse, hohes Alter. Zwar nimmt die Gehirnmasse ab dem 50. Altersjahr – im Durchschnitt – merklich ab. Doch das muss nicht sein: Wer sein Gehirn regelmässig trainiert, bleibt geistig fit bis ins hohe Alter.  
       
    Ihr Gehirn vibriert, während Sie diese Zeilen lesen. Jede der rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) ist durchschnittlich mit 1000 anderen Hirnzellen verbunden – ein gewaltiges dreidimensionales Netzwerk. An den Kontaktstellen (Synapsen) treffen Signale von anderen Nervenzellen ein. Es gibt nur zwei Arten von Signalen: Los!- und Stop!-Botschaften. Überwiegt die Summe der Los!-Signale und wird dabei ein bestimmter Schwellenwert überschritten, gibt die Zelle das Signal als elektrischen Impuls an andere Zellen weiter, mit einer Geschwindigkeit von 3 bis 320 Kilometern pro Stunde. Ein Gedanke ist eine Kettenreaktion, bei der Hunderte, Tausende oder sogar Millionen von Gehirnzellen beteiligt sind.
 
       
    Das Ich als fliessendes Muster  
    Erinnerungen können sich unauslöschlich in unser Gedächtnis einbrennen – besonders dann, wenn Ereignisse emotionale Gehirnzentren aktivieren. Die beteiligten Neuronen werden dabei so fest miteinander «verdrahtet», dass die Schaltungen nicht mehr rückgängig gemacht werden können: Die Erfahrung bleibt als unauslöschbares Muster in die Neuronen eingewoben. Die allermeisten Muster sind zum Glück kurzlebig und werden wieder aufgelöst. Die Summe aller Muster bildet unser «Ich»; es bleibt bestehen, auch wenn Teilmuster sich auflösen und sich neue bilden. Das Ganze ist – auch im Gehirn – mehr als die Summe seiner Teile.
 
       
    Homunculus in der Rinde  
    Körper und Gehirn bilden eine Einheit. Der Körper ist in der Gehirnrinde abgebildet, allerdings nicht mit den gleichen Proportionen. Überdurchschnittlich gross sind Gesicht und Hände in den entsprechenden Rindenbezirken vertreten.
Gehirn und Körper formen sich gegenseitig – ein Prozess, der während des ganzen Lebens anhält. Werden Körperteile durch Unfälle oder Operationen geschädigt, verändern sich die entsprechenden Bezirke und Muster im Gehirn.
 
       
    Übung macht den Meister  
  Lesen trainiert das Gehirn Wer gelernt hat, eine Tastatur zu bedienen oder ein Musikinstrument zu spielen, weiss, dass man durch Übung besser wird. Beim Üben von Bewegungseinheiten – etwa das Drücken der Klaviertasten C-D-E-F-G-G – verdrahten sich die beteiligten Gehirnzellen und schliessen sich miteinander kurz. Je mehr wir üben, desto müheloser können wir diese Sequenz ausführen. Unser Gehirn wird durch solche Lernprozesse geformt, und je früher wir mit Üben anfangen, desto grösser sind die Rindenareale, die mit einbezogen werden.  
       
   
Neuronaler Diebstahl
 
    Wird die gleiche Bewegung wieder und wieder – pausenlos ausgeübt, werden andere Hirnbezirke für diese Dauerleistung angezapft: Ein neuronaler Diebstahl findet statt. Menschen, die Routinearbeiten ausführen, erkranken oft an der so genannten Repetitive Strain Injury (RSI). Die Betroffenen klagen dabei unter anderem über Schmerzen und steife Gelenke. Die Ursache liegt vor allem im Gehirn: Durch die Einförmigkeit der Bewegungsabläufe – wer den ganzen Tag mit Maus und Keyboard arbeitet, ist besonders gefährdet – wächst das betreffende Netzwerk von Neuronen überproportional und es verkümmern Verbindungen zwischen anderen Nervenzellen. Abhilfe schaffen nur regelmässige Pausen, in denen andere Bewegungsabläufe ausgeübt werden.  
       
    Der Beruf ist im Hirn eingraviert  
  Lernen hält fit Brisant sind neuere Forschungsergebnisse: Ein hoher Bildungsstand schützt vor den verheerenden Folgen der Alzheimer-Demenz. Der Grund: Gebildete Menschen haben komplexere und reicher verschachtelte neuronale Netze als ungebildete Leute. Dies stützt auch die Hypothese, dass Bildung Gehirn und Geist prägt.
Im Gehirn tobt ein ständiger unerbittlicher Konkurrenzkampf um Verbindungen. Werden bestimmte neuronale Netze nicht mehr aktiviert, beginnen andere Netze unterforderte Nervenzellen abzuwerben. Immerhin können vernachlässigte Netze durch Üben wieder zum Leben erweckt werden . . . wenn nicht zu lange damit gewartet wird. Denn «Gelernt ist gelernt»! Wenn allerdings ein Netz zu sehr geschrumpft ist, bedarf es eines systematischen Aufbautrainings, ähnlich wie bei jemandem, der ein Bein gebrochen hat und nach einigen Wochen im Gips wieder mühsam Laufen lernen muss.
 
       
    Mentales Sofatraining  
    Wer sich gut konzentrieren und sich Bewegungsabläufe anschaulich vorstellen kann, mag auf den Weg ins Fitnessstudio verzichten: Mentales Training steigert die Körperkraft fast so stark wie mit dem Körper ausgeführte Übungen. Viele SportlerInnen haben aus dieser Tatsache schon grossen Nutzen gezogen; auch MusikerInnen können mental beinahe so gut üben, wie mit dem Instrument. Ob das Sofatraining nützt oder nicht, hängt von der aktiven Aufmerksamkeit während des mentalen Übens ab; denn Hirnregionen, die nur passiv stimuliert werden, werden durch Erfahrungen nicht geformt.

Darüber hinaus scheinen Träume bei der neuroplastischen Modellierung des Gehirns eine wichtige Rolle zu spielen: Das tagsüber locker geflochtene Gewebe wird geordnet und gestrafft. Am nächsten Tag wird das Gelernte besser ausgeübt als am Vortag.
 
       
    Phantomschmerzen  
    Die Erkenntnisse der Hirnphysiologie helfen besonders in jenen Fällen, wo bei Körper und Gehirn Verluste aufgetreten sind – etwa bei Unfällen, bei Amputationen von Gliedmassen oder nach Hirnoperationen. Oft können die danach entstandenen falschen Verdrahtungen im Gehirn bei der Rehabilitation wieder aufgelöst werden. Dies kann geschehen durch geschicktes Training und/oder durch Gabe von Medikamenten mit Botenstoffen, etwa den Neurotransmittern Noradrenalin und Acetylcholin, die die Reaktivierung von Nervenzellen begünstigen. Ebenso können durch gezielte Einbeziehung anderer Hirnteile (Training!) die aufgetretenen Verluste oft wieder kompensiert werden. Ein geduldiges, aufmerksames Üben ist aber unerlässlich, um gute Erfolge zu erzielen.

Eine erfolgreiche Rehabilitation ist jedoch nicht immer möglich, weil das Hirn modular aufgebaut ist. Hirnteile haben sich auf gewisse Funktionen spezialisiert; fehlt es nach einem Absterben von Hirnzellen an der kritischen Masse, kann keine Regeneration mehr erfolgen. Ebenso können unversehrte Hirnteile geschädigte Bezirke unterdrücken oder hemmen und so einer Gesundung entgegenwirken.
 
       
    Trainieren oder degenerieren  
  Klavierspielen ist gut fürs Gehirn Nicht nur die Körper-Reaktionen werden im Alter träger, auch das Erinnerungsvermögen wird geschwächt. Vor allem wo und wann etwas Bestimmtes gelernt wurde, wird im Alter schneller vergessen. Auch das Wiedererkennen von Gesichtern fällt einem mit zunehmendem Alter immer schwerer; ebenso können störende oder überflüssige Reize schlechter ausgefiltert werden.
Obwohl die Anzahl der Neuronen zumindest in der wichtigsten Region – im Schläfenlappen – nach dem fünfzigsten Altersjahr kaum abnimmt, schrumpft das Gehirn unaufhaltsam. Doch es kann sich reorganisieren – entsprechendes Training vorausgesetzt. Ältere Menschen scheinen zudem bestimmte Aufgaben mit dem Gehirn anders zu lösen als jüngere. Ebenso spielen im Alter Erfahrung, Motivation und Zufriedenheit als positive Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Auch ein vernünftiger Lebensstil – Rauchen, Ernährungsweise, Alkohol und Stress – ist zur Erhaltung der geistigen Fitness wichtig. Wer sich zudem regelmässig durch Bewegung körperlich fit hält, kann seine Lebenserwartung steigern. Das Wichtigste bleibt jedoch, das Gehirn lebenslang durch geistige Aufgaben – Lektüre, Diskussionen, Musizieren – rege zu halten. Auch hier haben Leute mit guter Bildung ein Plus: Sie haben «gelernt zu lernen». Ihr Gehirn verhält sich wie ein Computer, der sich selber programmiert; als solcher kann sich das Gehirn durch Lernen, Reflexion und Imagination selber stimulieren.
 
       
   
Was Hänschen nicht lernt . . .
 
    Die Gehirne von Kindern weisen 50 Prozent mehr Verbindungen zu anderen Neuronen auf als die von Erwachsenen. Doch das grosse Potenzial muss kultiviert werden: Wer als Kind nicht zum Lernen motiviert wird, kann den Rückstand später nicht mehr aufholen. Zuwendung und ein massgeschneidertes Feedback auch im Unterricht sind in der Kindheit lebenswichtig. Fazit: Die Umwelt trägt eben soviel bei zur Entwicklung der Intelligenz wie die Erbanlagen. Beharrlichkeit, Aufmerksamkeit und harte Arbeit sind weitere Schlüssel zur Entfaltung der vollen Leistungskraft des Gehirns.  
       
    Werbung manipuliert  
    Werbeagenturen wissen, wie Botschaften verpackt werden müssen, damit sie ankommen. Wer um die immer raffinierteren Methoden der Werbeleute weiss, kann sich gegen die Versuche schützen, das Gehirn unerwünscht modelliert zu bekommen. Besonders anfällig sind wir, wenn Produktemarken und -botschaften auf möglichst unterschwellige Weise mit Emotionen verknüpft werden.  
       
    Sich selber modellieren  
    Wir verändern das Gehirn in gleichem Masse, wie unser Gehirn uns verändert. Trauma und Stress beeinflussen das Gehirn negativ. Auf der anderen Seite können fröhliche Musik und lustige Filme die Hirnleistung verbessern. Lächeln verändert tatsächlich unseren emotionalen Zustand spürbar.

Dies ist bedeutsam, denn der Intelligenzquotient (IQ) ist nicht das Mass aller Dinge. Wie wichtig die «emotionale Intelligenz» (EQ) ist, wurde erst in den letzten Jahren erkannt. Sie kann durch angemessene Erziehung gezielt gefördert werden: Spontanes Spielen mit anderen Kindern und fröhliches Zusammensein im Kreis der Familie sind äusserst wichtig, um emotionale Intelligenz zu erlernen und einzuüben.
 
       
    Das elektrische Wir  
    Zum Schluss sei ein Abschnitt aus dem leicht verständlich geschriebenen Buch – es liest sich so spannend wie ein Krimi – von Ian Robertson zitiert:

«Es spielt keine Rolle, ob Sie acht Monate oder achtzig Jahre alt sind: Bis ans Lebensende hungert das vibrierende Netzwerk nach Erfahrung. Ihr neuronales Netzwerk wird sein Potenzial
jedoch nur dann ausschöpfen, wenn Ihr ‹Ich› an sich selbst glaubt. Dieses Selbstvertrauen wiederum stammt von den Menschen, die ihr ‹Ich› in das Netzwerk eingewoben haben – ihren Eltern, Geschwistern, Lehrern, Freunden und Partnern. In Wirklichkeit ist dieses elektrische ‹Ich› daher ein elektrisches ‹Wir›. Diese enge gegenseitige Verbindung unsrer Netzwerke ist die Ursache dafür, dass einige der Milliarden menschlicher Gehirne, die je existierten, jämmerlich verkümmern, während sich andere zu überragenden Leistungen aufschwingen. Das ‹Ich› kann das Gehirn plastisch modellieren, aber nur wenn es durch andere ‹Ichs› in Familie und Gesellschaft unterstützt wird.»
 
       
   
Jürg Lendenmann
 
  Das Universum in uns Ian Robertson: Das Universum in uns.
Gebunden, 348 Seiten
VGS-Bestellservice: Tel. 01 456 10 15
redaktion@vgs.ch und über www.vgs.ch
 
       
 
Erschienen im VGS-Gesundheitsmagazin
Dezember 2001  >> pdf 500 kB