Editorial

    
Leiter
 
Liebe Leserinnen, liebe Leser

Niemand bleibt gerne lange liegen, sitzen oder stehen. Dann drängt es einen zu gehen, fortzuschreiten – Fortschritt zu machen. Wer seinen Standpunkt verändert, sieht vieles unter immer neuen Blickwinkeln, erweitert den Horizont. Fortschreiten betont das Horizontale.
Mit Evolution (lat. evolvere – abwickeln, entwickeln) hingegen verknüpfen wir Erklimmen, Hochsteigen; oft dient das Symbol des in den Himmel wachsenden Baums dazu, Entwicklung darzustellen, auch im Geistigen.

Fortschritt und Evolution bringen Änderungen mit sich, grössere und kleinere, freudige und leidvolle. Wir geben uns gerne fortschrittlich und plädieren für Veränderungen. Doch kaum jemand ist bereit, sich aus freien Stücken grundlegend um mehr als 5% zu ändern, wie Ken Wilber, Autor des Bestsellers «Halbzeit der Evolution», in seinem neuesten Buch «Einfach ‹Das›» feststellt. Oft drängen uns Schicksalsschläge, Krankheit und Leid das nachzuholen, was wir vorher in einem heiteren Lebensabschnitt versäumt haben.

Evolution passiert in der Regel in kleinen, oft kaum wahrnehmbaren Schritten, präziser: in Stufen. Die Veränderungen sind umso auffälliger, je grösser die Abstände sind, in denen wir etwas wieder genauer ansehen. Wie verstaubt wirkt heute eine Ausgabe des VGS-Gesundheitsmagazins aus den 50er-Jahren! Will etwas lebendig bleiben, muss es wachsen, sich verändern, fortschreiten, sich entwickeln. «Das Bessere ist der Feind des Guten» oder, positiver: Jeder Schritt auf der Leiter der Evolution/der Erkenntnis übersteigt alle vorhergehenden Stufen und schliesst sie zugleich alle mit ein; jede einzelne Sprosse hat ihren Teil dazu beigetragen, dass wir dort anlangen durften, wo wir jetzt gerade stehen oder gehen.

Ich liebe Leitern, obwohl mir beim Hochsteigen schwindlig wird. Zum einen, weil sie mich an die vielen Schornsteinfeger in unserer Familie erinnern; zum anderen kommt mir oft der chinesische Weise Laozi (Lao Tse) in den Sinn: «30 Speichen umgeben eine Nabe, in ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.» Mag das Symbol des Wagenrades treffender sein – vertrauter bin ich mit Leitern, und ich kann direkter erfahren, wie der leere Raum zwischen den Sprossen die Leiter erst funktionsfähig macht.

Durch die Sprossen finden wir zur Leere; sie ist «unfassbar» und so schwer definierbar wie der Begriff der Gesundheit. Krankheit ist realer; Leid hat tausend Namen. Gesundheit und Krankheit – beide haben ihre Funktion, ihren Wert. Wir erahnen sie, von Sprosse zu Sprosse, beim Hochsteigen.

Jürg Lendenmann
Redaktor
   
  Erschienen im VGS-Gesundheitsmagazin
Oktober 2001 – pdf (100 kB)