Musik/Psychologie
 
    Das Tao der Musik  
       
    Gute Bücher und Musikkompositionen haben den gleichen Aufbau: sie stimmen ein (Vorwort – Intro), leiten zum Hauptteil über (Einleitung – Verse), entwickeln stufenweise eine Geschichte (Kapitel – Sätze, Chorusse) und enden mit einem Schlussakkord, der lange nachhallt. Eine ungewöhnlich reiche Komposition ist «Das Tao der Musik»; nicht nur deckt das Werk ein breites Spektrum der Psychologie und der Musik ab, sondern schafft mannigfaltige Parallelen und Verknüpfungen vor allem zur östlichen Philosophie. Das Tao der Musik  
       
    Striche man alle Stellen über die Musik aus dem «Tao der Musik» – es wäre ein umfassendes Buch über angewandte Psychologie; kaum ein aktuelles psychologisches Thema, das nicht fundiert behandelt würde. Die 20-jährige profunde Berufserfahrung des Psychologen John M. Ortiz ist überall spürbar. Doch «Das Tao der Musik» ist mehr als ein vorzügliches Buch über Psychologie – vor allem, weil es dem Autor gelungen war, nicht nur mit Erfolg sein musikalisches Talent, sondern auch seine anderen Leidenschaften (östliche Kampfkünste, Philosophie) schon früh mit seinem Beruf zu verbinden.  
       
    Dichter Klangteppich  
    Das Buch ist derart dicht geschrieben, dass jeder Versuch misslänge, seine Essenz auf knappen zwei Seiten darzustellen. Wie weit der Autor den Bogen spannt, zeigt eine kurze Auflistung der Kapitelüberschriften:
Die medizinisch-praktischen Themen umfassen: Depressive Stimmungen, Schmerz, Selbstachtung, Stress, Wut, Schlaflosigkeit, Kontrolle, Entspannung.

Unter den persönlichen Themen werden behandelt: Erinnerungsvermögen, Zeitplanung, Trauer und Verlust, Wachstum/Veränderung, Aufschieben, Altern, Körperliche Betätigung.
Die sozialen Themen umfassen Kommunikation, Gesellschaft/ Geselligkeit, Beziehungsfragen, Romantische Intimität, Motivation, Zuhören.

Den Schlusspunkt setzen spezielle Themen: Zentrierung, Kreativität, Hör und Jetzt, Loslassen, Sein statt sein wollen, Den Geist reinigen.

In den Anhängen wird vertieft dargestellt, was zuvor nur angetönt wurde: Rhythmische Synchronität, Psychischer Lärm, Stichwortgeber, Akustisches Gedächtnis, Erwartungen, Warum-Fragen, Sollte und müsste, Entrainment, Affirmationen, Gedanken Einhalt gebieten, Atmen, Mantrische Klänge, Chanting, Harmonisieren.

Enorm breit ist das Spektrum der Musikstücke, die Ortiz als Vorschläge für die in den meisten Kapiteln enthaltenen Übungen – es sind insgesamt 41 – auflistet; Liebhaber der klassischen Musik finden ebenso geeignete Beispiele wie New-Age- oder Pop-Fans. Kaum jemand wird der Versuchung widerstehen können, beim nächsten Besuch eines Musikladens sein Spektrum zu erweitern.

Neben prägnanten Fallgeschichten stossen LeserInnen immer wieder auf Aussprüche und Anweisungen für Schüler – Koans. So unlogisch oder unmöglich diese Lehrsprüche zunächst erscheinen mögen – «Die Musik des Tao ist wie der Klang des Klatschens der einen Hand» –, erschliesst sie ihr tiefer Sinngehalt oft unerwartet nach kürzerer oder längerer (!) Zeit.
 
       
   
Als Kinder pfeifen wir
eine einfache Melodie und staunen.
Wenn wir alt werden,
pfeifen wir diese einfache Melodie,
und das Staunen kehrt zurück.
 
       
    Musik ist gesund  
    Die Auswirkungen der Musik auf die Gesundheit sind ausserordentlich vielfältig: die körperliche Aktivität wird verbessert, der Blutdruck gesenkt, die Atmung reguliert und die Geist-Körper-Koordination verfeinert. Musik kann Menschen energetisch aufladen und helfen, den Verstand zu reinigen von psychischem Lärm wie Sorgen und Wut. Musik kann auch helfen, Schmerzen auszuschalten: Zahnärzte verwenden Beethoven oder Bach als eine Art akustisches Anästhetikum. Indem Musik Entspannungszustände herbeifüh-ren oder diese verstärken kann,
hilft sie, «das Immunsystem zu stärken, das Selbstvertrauen zu steigern, die Konzentration zu verbessern, Spontaneität zu bewirken und die Kreativität zu fördern»
 
       
    Brücken schlagen  
    Musik kann ein Schlüssel sein zu längst vergessenen Gefühlen und Bildern. Sie vermag auch die Kommunikation auf verschiedenen Ebenen zu verbessern und als «universelle Sprache» Brücken zu anderen Kulturen zu schlagen.  
       
   
Darsteller spielen,
und das Publikum hört zu.
Entertainer treten auf,
und die Massen tanzen.
Wenn der Weise spielt,
sind die Leute still.
 
       
    I Got Rhythm  
    Wer selber ein Instrument spielt weiss, wie Musizieren einem helfen kann, sich zu zentrieren und das eigene Gleichgewicht wieder zu finden – sich zu «harmonisieren». Musik fördert auch die schöpferische Kraft. Speziell beim Improvisieren – eine Domäne vor allem des Jazz – kann man sich im «Hör und Jetzt» erden und einfach «sein».
Musik ist meist mit Rhythmus gepaart. «Carl Seashore zufolge wirkt sich der Rhythmus auf elf grundlegende Arten auf unsere Wahrnehmung aus:
 
   
Er unterstützt die Wahrnehmung, indem er Ordnung schafft;
er reguliert die Anstrengung der Konzentration;
er verschafft uns ein Gefühl des Gleichgewichts
er verschafft uns ein Gefühl der Freiheit, des Überflusses und der Weite;
er verschafft uns ein Gefühl der Macht
er stimuliert und beruhigt
er ist unwillkürlich
er findet Resonanz im gesamten Organismus;
er regt an zu anhaltendem und bereicherndem Umgang;
seine Wirkung ist detailliert und komplex;
er resultiert im Spiel und folglich im freien Selbstausdruck und der Freude daran.»
 
    Ortiz ist auch ein begnadeter Geschichtenerzähler. Die Episode, wie er als Bewohner einer Kleinstadt nach New York kommt und sich trotz aller Anstrengung nicht dem hektischen Rhythmus der Stadtbewohner anpassen kann, lässt ein weiteres Element aufleuchten, das musikalischen Menschen eigen ist: ein feiner Sinn für Humor.  
       
   
Es ist eine grundlegende Wahrheit im Zen,
dass Anstrengung der Feind des Rhythmus ist.

Edward T. Hall, «The Dance of Life»
 
   

 
   
Jürg Lendenmann
 
       
    John M. Ortiz: Das Tao der Musik
O. W. Barth Verlag. Gebunden, 512 Seiten
Sonderausgabe etwa Fr. 24.–
Bestell-Nr. 4600240
VGS-Bestellservice: 01 456 30 17
redaktion@vgs.ch
 
     
 
Erschienen im VGS-Gesundheitsmagazin September 2001  pdf 150 kB