Editorial

Lob der Langsamkeit

Liebe Leserinnen, liebe Leser

12 Uhr. Leute hasten in Kantinen oder drängeln vor Fastfood-Ständen; wer noch mehr mit seiner Zeit geizen muss, packt Sandwich und Saft am Arbeitsplatz aus und nutzt den tieferen Lärmpegel, um ungestört dringende Arbeiten zu verrichten, die keinerlei Störung erlauben. Kaum hat man sichs versehen, ist die Mittagszeit vorüber und es gilt, die verbleibenden Stunden des Nachmittags ohne Leistungseinbusse hinter sich zu bringen, bevor der Feierabendverkehr den nächsten Stressschub garantiert.

Ich gebe zu, ich esse zu Mittag meist nur wenig und ohne viel Esskultur; Nüsse, Bananen, Buttermilch; wenn ich doch einmal mehr Boden brauche, gehe ich zu einem der vielen Take-Aways gleich um die Ecke: chinesisch, malaysisch, indisch, thailändisch. Dafür bleibt mir nach dem Essen viel Zeit, langsam durchs Quartier zu streifen oder mich auf eine stille Bank zu setzen. Selbst im Herzen von Zürich gibt es, gut versteckt, kleine Oasen der Ruhe, wo die Zeit langsamer zu fliessen scheint.

Ich bin nicht der Einzige, der die Stille schätzt und pflegt. Es sind immer wieder die gleichen Gesichter, denen ich begegne –Junge und Alte, die der Langsamkeit frönen. Man nickt sich zu und geht manchmal zufällig gemeinsam ein Stück des Weges oder teilt still die Zeit auf einer Parkbank.

Im Süden, wo die brütende Mittagshitze ein ameisengleiches Hin- und Hereilen von vorneherein verunmöglicht, gehärt ein Mittagsschläfchen zum normalen Tagesablauf. Der ebenso informative und humorvolle Beitrag von Silvia Baumgartner legt auch uns SchweizerInnen eine mittägliche Siesta ans Herz. Ob wir schlafend oder sonst wie für eine kurze Weile der aufreibenden Hektik des Alltags zu entfliehen suchen: Eine gut genutzte Mittagspause –versuchen Sie es einmal mit Taiji, Qigong, Meditieren oder Yoga – baut Stress ab. Dies ist wichtig, denn Stress ist einer der Risikofaktoren vieler Zivilisationskrankheiten auch des hohen Blutdrucks. Was bei Bluthochduck ausserdem beachtet werden muss und wie Heilpflanzen helfen können, ihn zu behandeln, zeigen zwei Artikel in dieser Nummer.

Es braucht Übung und Disziplin, Stressfaktoren gezielt wahrzunehmen und auszuschalten. Wenn Radio und Fernseher nur noch Background-Sound liefern, stehlen sie uns Aufmerksamkeit – eine Mangelware, die wir für andere Verrichtungen Gewinn bringender einsetzen können. Manchmal hilft eine Änderung der inneren Einstellung, damit mehr Ruhe einkehren kann ‚ innen wie aussen. Wir rennen dann nicht mehr wie der Hase vom einen Igel zum andern und liegen auch nicht wie des Fischers Frau in der Nacht wach und grübeln nach über Wünsche – auch darüber mehr in diesem Heft –, die wir besser sein liessen.

Jürg Lendenmann
Redaktor
   
Erschienen im VGS-Gesundheitsmagazin • Juni 2001 – pdf (90kB)