Fernöstliches

 

Traumwelt Tibet
 
     
 
Tibet ist en vogue. Das positive Image dieses Landes wird auch in der Schweiz weidlich ausgenutzt um Produkte zu verkaufen: vom Computer über den Staubsauger bis zum Auto, vom Bier über Käse bis zum Grüntee. Die Mitte Mai zu Ende gehende Ausstellung im Völkerkundemuseum Zürich – ein kleines Juwel – räumt mit den Tibet-Klischees auf.
 
  Tibet-Kommerzwelle
«Der Kommerz hat Tibet entdeckt.» Tibetische Mönche beleben Werbespots, Plakatsäulen, Anzeigen; sie helfen, Produkte aller Art zu vermarkten: Flipperkästen, Gesellschaftsspiele, Halstücher... selbst Swatch produzierte eine Uhr mit dem Namen «Lama».
Auf der Tibet-Kommerzwelle reiten auch Romane, Comics und Spielfilme: «Seven Years in Tibet/Sieben Jahre in Tibet» und «Kundun» waren Kassenschlager. Ursache dieser Tibet-Welle ist ein verzerrtes Tibet-Bild: Tibet als heiliger, geheimer Ort – ein Schatzhaus uralten Wissens. Zusammengezimmert haben dieses Bild Missionare, Forscher,
politische Beamte, Spione, Reiseschriftsteller, Esoteriker und Abenteurer. Viele von ihnen haben Tibet nie bereist und mit ihren Träumen und Halluzinationen wacker mitgeholfen, fantastische Legenden mitzugestalten und Scheinwelten zum Leben zu erwecken. Man scheut sich selbst nicht davor, Ritual-Gegenstände im Markt anzubieten. Ritualdolche, Gebetstrommeln, Sand-Mandala-Kits, Schürzen von klerikalen Tänzern. Übrigens: Die tibetischen Klangschalen tönen zwar schön, sind aber gewöhnliche Essschalen aus Nordindien und Nepal.

«Wollen Sie nicht schon lange etwas für sich tun? Um fitter zu sein; um sich wohler zu fühlen; um sich jünger zu fühlen; um Stress besser zu bewältigen; um Nervosität, Angst und Sorgen besser abzubauen; um erfolgreicher zu sein; um körperlich und geistig beweglich zu bleiben; um körperliche Beschwerden zu mildern; um für den täglichen Lebenskampf besser gewappnet zu sein; ohne grossen zeitlichen Aufwand? ohne grosse Anstrengung? ohne teure Ausrüstung? Dann sind ‹Die Fünf Tibeter› genau die richtigen fünf Übungen für Sie.» Dies ist eine Passage aus einem Prospekt, in dem für eines der erfolgreichsten «tibetischen» Dharma-Produkte geworben wird: die Fünf Tibeter... Obschon behauptetet wird, zur Erreichung der Quelle der Jugend genüge die korrekte Ausübung der «Fünf Tibeter», erfinden clevere Geschäftsleute immer neue Produkte, auf die die treue Tibet-Gymnastikgemeinschaft hereinzufallen scheint: Ergänzende Bücher, Audio- und Video-Kassetten, Kurse und gar eine Essenz «aus 100% natürlichen ätherischen Ölen»: Der Duft zum Buch.
Den «Fünf Tibetern» in Peter Kelders gleichnamigem Bestseller zugrunde liegt eine Schilderung von Colonel Bradford: Der 73-jährige Bradford beschreibt, wie er nach einer gefährlichen Expedition in ein entlegenes Gebiet im Himalaya ein Kloster fand, das das Geheimnis ewiger Jugend und Verjüngung barg: die besagten Übungen der fünf Tibeter. Viele Indizien weisen darauf hin, dass des Colonels Geschichte clever erfunden ist: Die «Fünf Tibeter» sollen die sieben Energiezentren (Chakras) aufladen; zwar kennt der tibetische Buddhismus Chakren, aber es handelt sich nie um sieben, sondern fünf, sechs oder acht Energiezentren. Mönche ernähren sich in Tibet nie mit den Nahrungsmitteln, die Bradford beschreibt, usw.
 
Traumwelt Tibet

Das Buch:
Martin Brauen: Traumwelt Tibet – Westliche Trugbilder. Gebunden, 296 Seiten.

Zu beziehen bei der VGS, Tel. 01/456 30 10, oder dirket auf unserer Bücherangebotsseite.
  Korrekturen
Viele der Tibet-Klischees entspringen tatsächlich tibetischen Geschichten und Vorstellungen. «Es gibt sie, die levitierenden und uralten Heiligen Tibets, die ab und zu auch Sex machen, es gibt sie, die Ingredienzen, Ri-ten, Gegenstände, die Wunder wirken, es gibt sie, die Shangri-La-artigen Regionen, Shambala und ‹verborgene Gegenden› genannt. Es gibt all diese Erscheinungen – in Legenden, in Märchen, in sakralen Texten, und mündlichen Überlieferungen Tibets.» Das Puzzle, das westliche Menschen mit Bruchstücken aus diesen Quellen zusammengefügt haben, hat mit Tibet kaum mehr etwas zu tun; die Tibet-Klischees widerspiegeln die Sehnsüchte und Bedürfnisse der westlichen Gesellschaft. «Zudem werden Anleihen beim tibetischem Stoff stets in einseitiger Weise gemacht: Es interessieren nur die Männer – nicht die Frauen; der Klerus – nicht die Laien; das Absonderliche – nicht das Alltägliche; die Ausnahmen – nicht das Gewöhnliche.»
Oft üben gerade das Nicht-Alltägliche und das Nicht-Gewöhnliche besondere Reize aus – wie die Ausstellung und das sie begleitende Buch von Dr. Martin Brauen.

Jürg Lendenmann
 
Die Ausstellung:
«Traumwelt Tibet – westliche und chinesische Trugbilder»: Wie im Buch werden auch in der Ausstellung die zahlreichen Trugbilder, die sich der Westen von Tibet machte und noch immer macht, entlarvt – mit Hilfe von Exponaten in den verschiedensten Formen (Theater, Bücher, Bilder, Comics, Filme und Alltagsgegenstände).

Völkerkundemuseum Zürich, Pelikanstrasse 40, 8001 Zürich,
Tel. 01/6349011, www.musethno.unizh.ch
Montag geschlossen. Di–Fr 10–13 Uhr, 14–17 Uhr; Sa 14–17 Uhr; So 11–17 Uhr
 
   
Erschienen im VGS-Gesundheitsmagazin • Mai 2001 – pdf (320kB)